Radreise Nürnberg – Prag – Dresden

Reisetagebuch

 

 

Fahrrad / Ausrüstung

 

Rahmen: Patria Ranger 60 cm

Schaltung: Rohloff Speedhub

Bremsen: Magura HS 33 + Booster

Reifen: Schwalbe Marathon 47x622

Gepäckträger: Tubus Locc + Low Rider Tubus Tara

Taschen: Karrimor

Fahrer: Rolf Bölckow

 

 

Dienstag, 18. August, Nürnberg-Schnaittenbach, 100 km

 

Will ich wirklich losfahren? Heute? Ohne gestern schon gepackt zu haben? Mein Plan sieht vor, an den ersten beiden Tagen jeweils 100 km zu fahren, um am dritten Tag kurz vor der Grenze starten zu können, damit ich eine Chance habe, nach 70 km Stříbro zu erreichen, die erste Stadt hinter der Grenze, in der ich laut Karte ein Hotel erwarten kann. Eigentlich die erste Stadt überhaupt hinter der Grenze. An einem Tag die 100 km von der Grenze bis Plzeň zu schaffen, der ersten größeren Stadt, habe ich mir abgeschminkt, nachdem ich gelesen habe, dass die Wege in Tschechien deutlich schwerer befahrbar seien als die in Deutschland. Damit ich also am dritten Tag „nur“ 70 km auf tschechischen Wegen fahren muss, muss ich an den ersten beiden Tagen je 100 km durch Deutschland fahren (ich könnte mir die Fahrt bis zur Grenze natürlich auch in drei statt zwei Etappen teilen, aber dann wäre ausgerechnet die erste Etappe hinter der Grenze, auf schlechteren Wegen, auch noch die bis dahin längste). Aber wann bin ich zuletzt an einem Tag 100 km mit Gepäck gefahren? Vermutlich seit zwanzig Jahren nicht mehr, und damals bin ich morgens um sieben losgefahren. Jetzt ist es neun, und ich habe noch nicht einmal gepackt.

Nicht lange nachgedacht und mir nicht selbst den Plan ausgeredet: ich packe, und um elf geht die Tour los. Erstaunlicherweise verfahre ich mich diesmal nicht schon in Röthenbach an der Pegnitz (also noch vor Lauf), sondern erst wieder an dieser schrecklichen Kreuzung am Baggersee in Happurg hinter Hersbruck (dabei hätte ich einfach nur am See entlang fahren und die Kreuzung rechts liegen lassen müssen). Dafür finde ich in Neukirchen auf Anhieb die Abkürzung über Lockenricht (merkwürdig, die vielen Ortsnamen hier, die auf -richt enden), die mir den Schlenker über Sulzbach-Rosenberg erspart.

Bis nach Hirschau geht es dann auf sehr ruhigen Wegen abseits befahrener Straßen bergauf und bergab. Da ich so spät losgefahren bin, spare ich mir eine Mittagspause, mache statt­dessen mehrere kurze Pausen, in denen ich mich mit Bananen stärke, und einen Kaffee-und-Kuchen-Stopp mit böhmischer (!) Apfeltorte mit Walnüssen und einer Bedienung mit tschechi­schem Akzent in dem Örtchen mit dem putzigen Namen Süß.

Kurz vor Hirschau trifft der PPP (Paneuroparadweg Paris-Prag) wieder auf die B14, jetzt geht es zwar eben, aber dafür autoreich und langweilig an Industriegebieten entlang weiter. Hirschau ist ein Montanort, hier werden u.a. Mineralien für die Porzellan­herstellung abgebaut, der Abraum (oder ist es die Schlacke, die nach der Verarbeitung übrig bleibt?) wurde als weißer Berg vor der Stadt angehäuft und ist jetzt eine weithin sichtbare, kleine Touristen­attraktion: „Monte Kaolino“. Es soll dort sogar eine Sommerskipiste einschließlich Liften geben. Ich spare mir den Abstecher, mein Tagesziel, die Hälfte der Strecke bis zur Grenze, ist der nächste Ort, Schnaittenbach, und ich sehne mich nach einer Dusche und einem Abend­brot. Immerhin: trotz des späten Starts werde ich mein für meine Verhältnisse anspruchsvoll gestecktes Tagesziel erreichen; das Training durch die RTF-Touren des Mittelfranken-Cups zahlt sich aus.

Am Ortseingang in Schnaittenbach steht eine Informationstafel, der ich den Standort eines Gasthauses ent­nehme. Ja, sie haben noch Zimmer frei, ich kann wählen zwischen einem Einzel­zimmer mit Etagentoilette und -dusche (und, wie ich später sehe, keinem Fenster, außer zum Flur!) für 21 Euro und einem Doppelzimmer in Einzelnutzung mit Toilette, Dusche, Fenster und Fern­seher für 28 Euro inkl. Frühstück. Keine Frage. Das Zimmer ist einfach möbliert, bietet aber allen Komfort, den ich brauche. Auf dem Weg zum Zimmer zeigt mir der Wirt seine Instrumentensammlung und fragt, ob ich ein Instrument spiele. Nein? Schade. Wenn ich gestern gekommen wäre, hätte ich den Musikabend miterleben können, der jeden Montag in seiner Gaststube stattfindet.

Ich dusche, und stelle fest, dass ich zwar meinen Zahn­bürsten­antrieb, aber keine Aufsteck­bürsten mitgenommen habe. Schon wieder! Am Wochenende in Dessau hatte ich auch schon keine Zahnbürste dabei. Alzheimer? Ich frage den Wirt nach einer Drogerie. Ein Schlecker ist gleich um die Ecke, hat aber schon zu. Also „Stadtrundgang“ mit ungeputzten Zähnen. Die größte (einzige?) Sehenswürdigkeit des Ortes ist ein kleiner, aber sehr hübscher Kräuter­garten. OK, in Hirschau hätte es vermutlich mehr zu sehen gegeben. Nach dem erschöpfenden Rundgang begebe ich mich in die Gaststube, um ein Abendbrot zu nehmen. Während gestern beim Musikabend wohl der Bär los gewesen sein muss, bin ich heute der einzige Gast und bestelle erst einmal ein Bier. Das bekomme ich auch prompt, aber der Wirt macht keinerlei Anstalten, mir eine Speisekarte zu bringen oder auch nur zu fragen, ob ich denn etwas essen möchte. Also gehe ich nach dem Bier in die Pizzeria, die ich beim Rundgang gesehen habe. Da gibt es eine sehr gute Pizza mit Parma-Schinken und frischem Rukola und ein Glas Wein – aus dem ich nach ein paar Minuten ein knappes Dutzend Fruchtfliegen fische. Die Viecher haben mich schon zu Hause genervt, in Massen meinen Kompost-Mülleimer bevölkert und sich mit Vorliebe in meinen Saft- und Weingläsern niedergelassen. Nach diesem Mahl begebe ich mich zur Nachtruhe.

 

Mittwoch, 19. August, Schnaittenbach-Eslarn, 100 km

 

Das Frühstück nehme ich im kleinen Biergarten des Hauses. Von der Wirtin bekomme ich Kostproben der oberpfälzischen Mundart mit den vielen ou-Lauten. Nach dem Frühstück und vor der Abfahrt noch schnell zum Schlecker, Zahnbürste kaufen und endlich Zähne putzen. Dann geht´s aber los.

Kurz nach Schnaittenbach verlässt der PPP wieder die B14 und führt auf ruhigen Waldwegen ins Naabtal hinunter. Dort geht es erst einmal nach Norden. Der direkte Weg nach Osten wäre zwar viel kürzer, aber die Planer waren so rücksichtsvoll, einen deutlich längeren Weg auszuschildern, der in einem weiten Bogen, dafür praktisch steigungsfrei nach Eslarn führt. In Luhe-Wildenau ist der ausge­schilderte Weg gesperrt, aber auf der Karte finde ich schnell eine Alternativroute, die mich nach wenigen Kilometern wieder auf den PPP zurück bringt. Schade: der PPP führt entlang der Waldnaab an Weiden i.d.Opf. vorbei, nicht in den Ort selbst hinein. Hier wäre ich doch gern durch den Stadtkern gefahren und hätte mir noch einen gemütlichen Kaffee gegönnt. Aber einen zeitraubenden Abstecher will ich mir nun doch nicht leisten.

Ab Neustadt an der Waldnaab ist der PPP identisch mit dem „Bocklradweg“, einer ehe­maligen Bahntrasse. Das stellt sicher, dass man keine starken Steigungen überwinden muss. Stattdessen gibt es sehr sanfte, aber teilweise enervierend lange Steigungen, die ich im lauten siebten Gang hochfahren muss. Der Weg schlängelt sich zwischen Feldern und Weiden durch die Landschaft, ich fahre größtenteils in praller Sonne. Heute will ich eine Mittagspause einlegen, bin ja zwei Stunden früher losgefahren als gestern, habe also genug Zeit. Aber nach Neustadt, wo es mir noch zu früh war, ist erst Vohenstrauß der nächste Ort mit Einkehr­möglichkeit, und als ich da ankomme, geht es schon auf drei zu.

Nach dem Essen bin ich noch keine zwei Kilometer gefahren, da beginnt es, in meinem Bauch zu rumoren. Zum Glück kommt bald ein einsames Waldstück, in dem ich mich im Wortsinne notdürftig erleichtern kann. Diarrhoe auf einer Fahrradtour, das hatte ich auch noch nie. Aber wovon? Das heutige Mittagessen kann noch nicht den Darm passiert haben, die Pizza gestern abend und auch Brot und Aufschnitt heute morgen waren unauffällig. Hatte ich womöglich meine Trinkflaschen nach der letzten Tour zu lange unabgewaschen stehen gelassen und dann nicht gründlich genug gereinigt, so dass sie verkeimt waren? Oder habe ich einen Sonnen­stich, und die Diarrhoe ist ein Neben­symptom? Im nächsten Ort, Pleystein, suche ich noch einmal ein Café und vor allem dessen Toilette auf. Das kann ja heiter werden!

Ich erreiche Eslarn, mein heutiges Etappenziel, fahre kreuz und quer durch den Ort und finde kein Hotel. Das ist ein Kurort, da muss es doch Hotels geben! Die Touristen­information hat noch geöffnet und vermittelt mir ein Zimmer in einem Gasthof, der an eine Metzgerei angeschlossen ist. Ich ahne Schlimmes, aber das Gästehaus ist ein richtiges kleines Hotel, und zumindest während meines Aufenthalts finden auch keine Schlachtungen im Hof statt. Auf dem Stadtplan, den ich in der Touri-Info bekommen hatte, sehe ich, dass das Kurgebiet, das ich eigentlich gesucht hatte, nicht an der Hauptstraße des Ortes liegt, sondern über eine kleine Nebenstraße zu erreichen ist, die ich bei meinem „kreuz und quer“ nicht ausprobiert hatte.

 

Donnerstag, 20. August, Eslarn-Stříbro, 70 km

 

Mit etwas mulmigem Gefühl starte ich in Richtung Grenze. Bislang führte die Route durch den touristisch erschlossenen Oberpfälzer Wald, da hätte ich jederzeit schlapp machen können und hätte dann innerhalb weniger Kilometer einen Ort mit Unterkunfts­möglichkeit gefunden, aber hinter der Grenze kommt erst einmal ganz lange nichts außer kleinen Dörfern und einem Campingplatz. Erst nach 70 km, in Stříbro gibt es laut Karte Hotels und Pensionen. Heute muss ich also 70 km schaffen, und wie wird das auf den tschechischen Radwegen gehen? Wenigstens gibt mein Bauch wieder Ruhe.

Eigentlich wollte ich meinen Reisepass mitnehmen, habe ihn aber beim hektischen Packen vorgestern früh vergessen. Werde ich die Grenze auch nur mit Personalausweis passieren können? Sollte möglich sein, immerhin gehört die Tschechische Republik zur Europäischen Union, aber ganz sicher bin ich mir nicht.

Die Frage stellt sich nicht: weder die deutschen noch die tschechischen Wärterhäuschen sind besetzt, ich fahre einfach über die Grenze, ohne das irgendwer irgendetwas sehen will. Gehört Tschechien auch zum Schengen-Raum? Hinter der Grenze hatte ich Geldautomaten erwartet, an denen ich mir Kronen besorgen kann, die gibt es hier aber nicht oder ich finde sie nicht, nur jede Menge Verkaufsstände. Ich fahre also gleich weiter. Die ersten zwanzig Kilometer geht es gleich über Waldwege, laut Karte teilweise unbefestigt, und quer über mehrere Höhenlinien, und ich überlege, ob ich bis Bĕlá nad Radbuzou über die Landstraße abkürze. Aber nein, ich kann doch nicht schon gleich am Anfang kneifen! Ich folge also der Aus­schilde­rung des Radwegs Nr. 37. Dort, wo der Radweg von der Straße abbiegt, wenige hun­dert Meter hinter der Grenze, steht ein „Night Club“, „now open“, morgens um halb zehn in der Nähe von Deutschland. Offenbar ist man für Touristen aller Art gerüstet.

Der Waldweg ist ausgesprochen gut befahrbar, besser als einige, die ich gestern und vor­gestern gefahren bin, und die Beschilderung ist vorbildlich. Der Radweg Nr. 37 ist an bzw. vor jeder Abzweigung (und oftmals auch auf freier Strecke, so dass man weiß, dass man noch auf dem richtigen Weg ist) mit gut sichtbaren Wegweisern gekennzeichnet, wie Bundes­straßen in Deutschland: die Wegenummer in schwarzer Schrift auf gelbem Grund, an Kreuzungen mit anderen Radwegen oft auch mit Entfernungsangaben zu den nächsten Nah- und Fernzielen auf dem Weg. Von dieser Ausschilderung könnten sich die deutschen Rad­wege ein paar Scheiben abschneiden! Ich bin also guten Mutes, auch heute mein Tagesziel zu erreichen, und ärgere mich über die Miesmachung der tschechischen Radwege in den Foren. Auch die Radkarten von ShoCart sind sehr präzis, 1:60000, es sind viele Details (z.B. Hochspannungs­leitungen) eingezeichnet, an denen man sich gut orientieren kann. Aber wegen der ausgezeichneten Beschilderung braucht man die Karte eigentlich nicht, um zu sehen, wo der Weg weiter geht, sondern nur, wo man sich gerade befindet. Steigungen sind nicht, wie in vielen deutschen Radkarten, durch Pfeile gekennzeichnet; man muss eben gucken, ob der Weg Höhenlinien kreuzt oder parallel zu ihnen läuft und wie nah die Höhenlinien bei­einander sind. Auch sind Straßen nicht nach ihrer Kfz-Verkehrsdichte ge­kenn­zeichnet. Dafür ist bei Orten ist nicht nur vermerkt, ob es da Einkehr- und Unterkunfts­möglichkeiten gibt, sondern Hotels, Pensionen, Jugend­herbergen, Campingplätze und Restaurants sind mit ihrer genauen Lage eingetragen, das werde ich noch zu schätzen wissen.

Ich erreiche Bĕlá über eine kleine, nur für Fußgänger und Fahrrad­fahrer zu passierende Bogen­brücke über den Bach Radbuza. Die Brücke ist mit Heiligenfiguren verziert, u.a. natürlich Nepomuk, das scheint ich Tschechien so üblich zu sein. Im Ort finde ich sofort einen kleinen Laden, in dem ich mich mit Obst und Getränken für unterwegs verproviantieren kann, aber immer noch keinen Geldautomaten und keine Bank. Der Laden würde auch Euro annehmen, aber ich brauche ja für die weitere Tour auf jeden Fall Kronen. Nachdem ich dreimal kreuz und quer durch den Ort gefahren bin, finde ich schließlich das Postamt mit Geldautomaten, das mir die Kassiererin genannt hatte, als ich sie nach einer Bank fragte: es ist nur wenige Schritte von dem Laden entfernt, und ich war schon dreimal daran vorbei gefahren. Ich ziehe mir also etwas Geld und gehe einkaufen. Vor dem Laden sprechen mich tschechische Radfahrer an, ob ich aus Holland komme. Der geschlosse­ne Kettenkasten an meinem Rad sieht schon danach aus.

Ab Bĕlá geht es auf einer Landstraße weiter, und zwar zunächst einer stark befahrenen mit steilen Anstiegen. Die tschechischen Autofahrer sind sehr rücksichtsvoll, kein Hupen, keine knappen, an Abdrängung grenzenden Überholmanöver, wie ich sie auf deutschen Straßen gewohnt bin, bei Gegenverkehr drängeln sie sich nicht an mir vorbei, sondern bleiben hinter mir, bis der Gegenverkehr vorbei ist. Ab Dubec geht es steigungsarm und auf Straßen mit wenig Autoverkehr weiter, gemütliches Radeln durch eine wunderschöne, sanft ge­schwunge­ne Landschaft.

Gegen Mittag bin ich in Staré Sedlo und sehe einen Biergarten voller Fahrradfahrer mit gleichen T-Shirts, also offenbar ein Verein. Da ich nicht weiß, wie man auf Tschechisch ein Alsterwasser/Radler bestellt, trinke ich ein Bier (das bekomme ich hin: „pivo, prosím“). Und gleich noch eins. Einer der Vereins­fahrer erzählt mir in einem Gemisch von Tschechisch und Englisch und Gestikulieren auf der Karte von seiner Tour durch ein nahe gelegenes Natur­schutzgebiet.

Wenn ich früher in einer Pause Alsterwasser/Radler getrunken habe, gerade an heißen Tagen mit prallem Sonnenschein wie heute, bekam ich danach bei der nächsten Anstrengung oft Kopfschmerzen und habe sie auf den Bieranteil zurückgeführt. Jetzt, nach einem Liter Bier pur, habe ich überhaupt kein Problem. Das muss ich mir merken.

Kurz nach Staré Sedlo biegt der 37 von der Straße ab, es geht über einen unbefestigten Weg weiter, und dieser erfüllt dann alle meine schlechten Erwartungen, die heute morgen noch so angenehm enttäuscht worden waren. Der Weg geht nicht nur steil aufwärts, sondern auch über Stock und Stein, ist mit einem Mountain Bike sicherlich befahrbar, aber mit einem bepackten Reiserad kaum. Selbst wo es bergab geht, kann ich das Rad nicht laufen lassen: wenn ich zu schnell über die Unebenheiten rolle, springen mir die hinteren Pack­taschen vom Träger. Nach dieser Tour werde ich wohl doch auf Ortlieb-Taschen umstellen, deren Befestigungssystem passt (hoffentlich) besser zu meinem Tubus-Träger. Die Karrimor-Taschen sind auch schon zwanzig Jahre alt, und die „lebenslange Garantie“ nützt mir nichts mehr, weil die Firma nicht mehr existiert. Sie haben mir aber bis jetzt hervorragende Dienste geleistet und sind völlig unbeschädigt. Nur musste ich für die Befestigung an den dickeren Rohren der Tubus-Träger die Aufhängung etwas aufbiegen, und das rächt sich wohl jetzt. Ich hoffe, die Aufhängung hält durch und bricht nicht. Jetzt fällt mir auf, dass ich beim Packen nicht nur Zahnbürste und Reisepass, sondern auch die Spanngurte vergessen habe, die ich sonst immer mitnehme, um Gepäck auf dem Träger festschnallen zu können. Ich bin froh, als der Weg wieder eine befestigte Straße erreicht.

Hinter Kladruby folgt ein weiterer kurzer, aber steiler Anstieg auf eine Anhöhe, auf der ein altes Benediktinerkloster steht, das man schon von weitem sehen kann. Das großzügig angelegte Klostergelände kann man zwar betreten, aber die Gebäude, auch das Münster, nicht. Es gibt keine Informationen zum Kloster, aber einen Souvenirshop, und einen weiten Blick in die Landschaft.

Kurz danach folgt ein weiterer unbefestigter Wegabschnitt, wieder sehr schlecht befahrbar. An einer Stelle führt der Weg an einem abgeernteten Getreidefeld entlang, und man sieht deutlich, dass viele Fahrer vor mir die Fahrt übers Feld dem eigentlichen Weg vorgezogen haben. Ich tue es ihnen gleich. Selbst als die Karte eigentlich wieder befestigten Weg bzw. Straße zeigt, ändert sich die Beschaffen­heit des Weges kaum. Als er dann bei Svinná schließlich eine Straße kreuzt, entschließe ich mich, die letzten zwei Kilometer bis Stříbro auf dieser Straße statt auf dem ausgeschilder­ten Radweg zu fahren.

Wie in der Karte verzeichnet, finde ich zwischen der Straßen- und der Fußgängerbrücke über die Mže = Mies ein Hotel und checke ein. Das Treppenhaus und das Restaurant sind hübsch und rustikal, offenes Balken­werk im Restaurant, ein große hölzerne Wendeltreppe im runden Treppenhaus, das Zimmer eher einfach, aber auch wieder alles drin, was ich brauche. Die heutige Etappe war – eigent­lich nur wegen der unbefestigten Abschnitte auf den eigentlich wenigen Kilometern zwischen Stare Sedlo und Stříbro – anstrengender gewesen als die beiden vorigen zusammen. Vielleicht haben mich diese Abschnitte auch mehr nervlich angestrengt als körperlich und mir einfach nur für heute die Lust am Fahren genommen. Als ich meine Uhr abnehme, zerbröselt das Armband, wohl vom Schweiß mürb geworden, na toll, das hat mir heute gerade noch gefehlt.

Nach dem Duschen mache ich einen kleinen Stadtrundgang, d.h. auf dem anderen Ufer der Mže erst einmal steil aufwärts in den Ortskern, der auf einer Anhöhe oberhalb des Flusses liegt. Ein sehr hübscher Marktplatz, ein Rathaus mit Sgraffito-Fassade, in den vom Marktplatz abgehenden Straßen bis zur nächsten Ecke noch Geschäfte in Häusern mit bunt gestrichenen Fassaden. Sobald man sich mehr als 50 Meter vom Marktplatz entfernt, enden die hübschen Fassaden, und man sieht nur noch Häuser, die noch der Renovierung harren. Das erinnert mich an meine erste Tour durch MeckPomm in den 90ern. Es gelingt mir, mich zu einem Uhrengeschäft durchzufragen, in dem man meiner Uhr ein neues Armband verpasst.

Durch viele Wegweiser zu „Hornický Skanzen“ neugierig geworden, folge ich einem Weg durch einen kleinen Park hinab zur Mže, der Fluss fließt hier zwischen steilen Felswänden. Ich hatte vermutet, dass „Skanzen“ mit dem deutschen „Schanze“ verwandt ist und als Ziel des Weges einen Rest der Stadtbefestigung erwartet. Am anderen Ufer liegt aber ein ehe­maliges Bergwerk (zuhause werde ich später nachlesen, dass hier früher Silber geschürft wurde; der Ortsname Stříbro ist das tschechische Wort für Silber). Heute beherbergt es offen­bar ein Bergbau­museum, das jetzt aber geschlossen ist. Ich weiß nicht, ob „Hornický Skanzen“ der Name der Mine ist oder auf den historischen Lehrpfad an der Mže verweist, von dem die Mine nur eine Station ist. Die Informationstafeln am Lehrpfad sind ausschließlich tschechisch beschriftet, das kann ich leider nicht lesen.

Abendessen im Hotel. Auf der (zum Glück zweisprachigen) Karte guckt mich das Steak mit Schokoladen-Chili-Sauce an. Sehr lecker, schön schokoladig, die Schärfe des Chili spüre ich aber erst nach dem Essen. Im Laufe des Abends kommen zwei Polizisten ins Lokal, nehmen aber von den Gästen keine Notiz, trinken nur etwas und flirten ausgiebig mit der hübschen Kellnerin.

 

Freitag, 21. August, Stříbro-Plzeň, 40 km

 

Wieder ein mulmiger Start. War der Weg gestern zwar steigungsreich, aber laut Karte „befestigt“, oder zumindest „unbefestigt, bei Trockenheit gut befahrbar“, so zeigt die Karte für heute längere Abschnitte mit der Signatur für „anspruchsvolle Wegstrecke, MTB“, die zudem mit mehreren Ausrufezeichen für besondere Gefahren­stellen versehen sind. Auch Gästebucheinträge auf der PPP-Webseite warnen vor diesem Teil der Strecke. Nachdem gestern einige „unbefestigte“ und selbst einige „befestigte“ Wege kaum befahrbar waren, rechne ich für heute also mit dem Schlimmsten und auf keinen Fall damit, weiter als bis Plzeň zu kommen, auch wenn das nur etwa 40 km sind. Außerdem hat der Wetterbericht (für den Südosten Deutsch­lands, ich extrapoliere das mal in den Westen Tschechiens) für heute nachmittag heftige Gewitter angekündigt, und die würde ich gern irgendwo unter einem Dach bei einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen vorüberziehen lassen.

Kaum habe ich die Stadt verlassen, wird es gleich richtig haarig: der Weg, der direkt an der Mže entlang führt, verengt sich zu einem Trampelpfad. An einigen Stellen muss ich das Gepäck vom Rad nehmen und Rad und Gepäck separat über Fels­vorsprünge oder weit aus dem Boden heraus ragende Baumwurzeln hinweg tragen. Wenn das so weitergeht, werde ich heute nicht einmal Plzeň erreichen. Kurz vor Vranow, wieder auf befestigter Fahrbahn, stelle ich aber fest, dass dieser Trampelpfad gar nicht der Radweg 37 war. Die Beschilderung in der Gegenrichtung zeigt woanders hin als wo ich entlang ge­kommen bin. Ich muss trotz der eigentlich hervorragenden Ausschilderung irgendwo vom Weg abge­kommen sein.

Der nächste „anspruchsvoll, MTB“ Abschnitt auf dem richtigen 37 entpuppt sich dann als grob gekiester, aber dennoch relativ gut befahrbarer Waldweg. An einigen sehr steilen Anstiegen muss ich zwar schieben, aber insgesamt ist der Weg viel besser als ich von der Kartenlage her und nach den gestrigen Erfahrungen befürchtet hatte. Die in der Karte eingezeichneten Gefahren­stellen sind scharfe Kurven oder Kreuzungen unmittelbar nach steilen Abfahrten, an denen ich das Rad ohnehin nicht laufen lassen kann. Ich bin sehr froh über meine hydraulischen Bremsen und die dicken Reifen, und merke mir, dass die Signatur auf der Karte eher formal die bauliche „Befestigung“ des Weges bezeichnet, aber eigentlich wenig über die tatsächliche Befahrbarkeit aussagt.

Ich erreiche den Bahnhof von Pňovany, von hier an geht es wieder auf gut ausgebauten, größtenteils verkehrsarmen Straßen über sanfte Hügel nach Plzeň, wo ich gegen Mittag eintreffe. Da sich der Himmel zusehends verfinstert, fällt mir der Entschluss leicht, trotz der frühen Tageszeit nicht mehr weiter zu fahren, sondern im Hotel Continental abzusteigen, das von außen mondäner aussieht als es innen ist.

Stadtrundgang: der Marktplatz ist großzügig um eine gotische Kathedrale herum angelegt und ist umstanden von repräsentativen Bürgerhäusern, wieder ein Rathaus mit Sgraffito-Fassade. Direkt vor der Kathedrale sind eine Bühne und ein paar Bankreihen aufgebaut, und Plakaten entnehme ich, dass hier eine ähnliche Veranstaltung läuft wie das Nürnberger Bardentreffen: eintrittsfreie Open Air Konzerte verschiedener Interpreten auf mehreren Bühnen in der Stadt. Hier auf dem Marktplatz werden heute noch drei Bands spielen.

Ein paar Schritte vom Marktplatz entfernt steht die drittgrößte (nach Jerusalem und Budapest) Synagoge der Welt. An der Kasse bekomme ich neben einer Eintrittskarte auch eine Kippah aus Papier, die mir während der Besichtigung mehrmals vom Kopf fällt, man hätte mir auch eine Haarklammer dazu geben sollen. Ich bin überrascht, wie sehr der Innenraum der um 1900 gebauten Synagoge dem einer christlichen Kirche ähnelt: eine dreischiffige neo­romanische Basilika, an der Stirnseite, die nach Osten ausgerichtet ist, eine Art Altar, auf einer Empore darüber sogar eine Orgel!, davor Bankreihen, an den Seiten hohe Fenster aus farbigem Glas. Nur das Fehlen von Heiligen- oder überhaupt gegenständlichen Bildern und Statuen und natürlich eines Kruzifix´, dafür Wand­bemalungen und Glasfenster mit floralen Motiven und abstrakten Ornamenten geben einen „orientalischen“ Eindruck und machen deutlich, dass es sich nicht um eine christliche, zumindest keine westliche Kirche handelt. Ich hatte eine völlig andere Vorstellung vom Innenraum einer Synagoge gehabt: ein relativ kleiner, fensterloser, auf jeden Fall nicht als Basilika ausgeführter Versammlungsraum mit Thora-Schrein, zu dem nur Männer Zutritt haben, und ein separater Versammlungs­raum für Frauen, auf keinen Fall eine Orgel. Den Thora-Schrein finde ich an der Stelle des Altars wieder, aber der Versammlungsraum ist viel größer und heller als ich es mir vorgestellt hatte. Und wo versammeln sich die Frauen? In den Bankreihen auf der Empore? Weniger abge­trennt als ich mir vorstellte? War mein Bild so falsch?

Zurück auf dem Marktplatz lasse ich mich in einem Café nieder und esse ein Stück Medovník, einer Art Honigkuchen (daher der Name: Med ist das tschechische Wort für Honig, verwandt mit dem deutschen Met), aber nicht einfach ein homogener Teig in Kastenform wie Honig­kuchen bei uns, sondern eine geschichtete Torte mit Lagen von Sahne und gemahlenen Wal­nüssen zwischen den Teiglagen. Die ersten Regenschauer gehen nieder, während ich cáva (Kaffee) und Kuchen unter einer Markise auf der Terrasse genieße, genau so hatte ich mir das Vorbeiziehen der Gewitterfront vorgestellt. Ich genieße den Nachmittag und beglückwünsche mich zu dem Entschluss, nicht weiter gefahren zu sein.

Nach einem weiteren Spaziergang durch die Altstadt schlendere ich zwischen den Fressbuden und -zelten hindurch, die vor der Konzertbühne aufgebaut sind und gönne mir einen Mojito in einer Cocktail Lounge. Das erste Konzert beginnt. Als ich nach einer Viertelstunde nicht sicher bin, ob die Band noch ihre Instrumente stimmt oder schon spielt, gehe ich ins Hotel zurück, ruhe mich etwas aus und lese, ich will endlich die Satanischen Verse durch be­kom­men.

Als ich wieder zum Marktplatz gehe, spielt inzwischen eine Band, die mehr nach meinem Geschmack ist: Quanti Minoris nennen sie sich und spielen einen frischen Folkrock, in mittelalterlichen Kostümen, und zum Teil auch auf alten Instrumenten. Nach deren Auftritt gehe ich zum Abendessen in eine pivnice, eine gut besuchte Bierkneipe, Gulaš mit drei Sorten knédlík. Zurück auf dem Marktplatz spielt jetzt eine Band namens Semtex (so heißt doch der tschechische Plastik-Sprengstoff in den James-Bond-Filmen?) eine Musik, die ständig zwischen ruhigen, melancholischen Klängen und Gothic oder Heavy Metal pendelt, eine Zeit lang ganz interessant, aber im immer gleichen Wechselrhythmus irgendwann auch wieder lang­weilig.

 

Sonnabend, 22. August, Plzeň-Karlštejn, 110 km

 

Als ich aufstehe, regnet es in Strömen. Nachdem gestern das große Gewitter ausgeblieben war und es nur ein paar kurze, unergiebige Schauer gegeben hatte, scheint der Himmel heute den Regen nachholen zu wollen. Und auf meinem Weg liegen wieder „unbefestigte, „bei Trocken­heit gut befahrbare“ und auch „anspruchsvolle, MTB“ Abschnitte. Ich überlege, ob ich meine Weiterfahrt um einen Tag verschiebe, entschließe mich aber doch zum Aufbruch. Guter Entschluss: als ich mein Rad belade, hört der Regen auf, und es wird den ganzen Tag trocken, wenn auch bedeckt bleiben. Dass heute die Sonne nicht scheint, ist eigentlich ganz erfrischend.

Die ersten Kilometer umrunden halb das riesige Brauereigelände, auf dem die Marken „Pilsner Urquell“ (das heißt auch in Tschechien so!) und Gambrinus gebraut werden. Endlich aus dem Industriegebiet heraus, scheint der Weg (ab Plzeň nicht mehr Nr. 37, sondern Nr. 3) jeden Hügel der Vororte mitnehmen zu wollen. Von einigen der Hügel hat man einen schönen weiten Blick, vermutlich wird deshalb der Weg über die Höhen geführt, aber in Richtung Plzeň trifft der Blick vor allem auf dessen Industrie- und Brauereilandschaften, ist also nicht sehr fotogen.

Hinter Ejpovice ist der Weg gesperrt, keine Umleitung ausgeschildert, und die Karte zeigt auch keine Alternativroute, die weniger als zehn Kilometer Umweg mit sich brächte. Also ignoriere ich die Sperrschilder. Als Ursache der Sperre stellt sich eine Baustelle auf einer Brücke heraus, auf der der Fahrbahn­belag erneuert wird. Die Absperrung besteht hier nur aus Trassierband. Ich schiebe mein Rad durch die Baustelle, auf der heute niemand arbeitet, und fahre auf der anderen Seite auf dem ausgeschilderten Weg weiter.

In Rokycany angekommen, finde ich als erste Einkaufmöglichkeit einen Penny (!) Markt und versorge mich erst einmal wieder mit Obst und Getränken. Aus Rokycany heraus geht es auf einem sehr gut ausgebauten Radweg an einem Bach entlang, sogar Picknickplätze mit Bänken und Tischen gibt es dort. Ab Dobřív folgt dann eine „anspruchsvolle Wegstrecke, MTB“, aber auch diese stellt sich als gut befahrbar heraus, gekiester Waldweg, zwar starke Steigungen, aber keine ernsten Probleme. Einmal denke ich, ich müsste einen Bach durchwaten. Erst nachdem ich das zu Fuß getan habe, um von der anderen Seite aus mein Fahrrad zu fotografieren und diese Situation zu dokumentieren, sehe ich ein paar Meter abseits des Weges eine kleine, etwas provisorisch aussehende Brücke, die mir die nassen Füße erspart hätte. Ab Strašice geht es auf einem „befestigten“ Weg weiter, der mit seinen riesigen Schlaglöchern aber schlechter zu fahren ist als die „anspruchsvolle Wegstrecke, MTB“ vorher.

In Tĕnĕ erreicht der Radweg wieder eine richtige Straße, und ab jetzt geht es gut 50 km lang hinunter ins Tal der Berounka, auf glatter Fahrbahndecke mit wenig Autoverkehr fast nur noch leicht bergab, mit Ausnahme eines Anstieges in Hořovice hinauf zum Schloss, wo ich im Schloss­park picknicke. Ohne weitere Mühen erreiche ich nachmittags Revnice – und stelle fest, dass die laut Karte vor­handenen Hotels und überhaupt der ganze Ort nicht übertrieben einladend aussehen. Da ich ohnehin vorhatte, morgen früh vor der Weiterfahrt nach Prag erst noch einen Abstecher nach Karlštejn zu machen, beschließe ich, gleich jetzt dorthin zu fahren und mir dort eine Unterkunft zu suchen.

Leichter gesagt als getan. Erst ist es etwas schwierig, in Zadní Třebaň die Fußgängerbrücke über die Berounka zu finden. Sie liegt etwas „versteckt“ hinterm Bahnhof. Man muss entweder den Bahnhof unterqueren (Treppe runter und rauf) oder einen guten Kilometer vorher die Bahngleise überqueren und einem holprigen Trampelpfad zwischen den Gleisen und der Berounka folgen. Danach sind es nur noch etwa 2 km bis Karlštejn, aber dort wimmelt es nur so von Touristen, die Burg ist ein wahrer Publikums­magnet, gerade jetzt am Wochen­ende. Die Fußgängerstraße (auch mir wird von Polizisten signalisiert, dass ich vom Rad steigen muss) vom Tal hinauf zur Burg ist gesäumt von Souvenir­läden, Cafés und Restaurants. Erst nach langem Suchen und vielen vergeblichen Anfragen finde ich auf dem gegenüber liegenden Ufer, direkt am Bahnhof, schließlich doch eine Pension, die ein Zimmer frei hat. „Mluvíte anglicky?“ – „A little bit.“ – „Do you have a room available?“ – „ROOM?“ – „Yes!“ – und dann holt sie eine Flasche RUM aus der Bar – der Lacher des Tages. Aber ein freies Zimmer haben sie auch.

Nachdem meine Unterkunft für heute gesichert ist, reserviere ich telefonisch ein Hotelzimmer in Prag für drei Nächte ab morgen. Ich wollte nicht gerade am Freitag oder Sonnabend dort ankommen, wenn die Stadt vor Wochenendtouristen überquillt. Da ich heute schneller vorangekommen bin als gedacht, werde ich nicht wie geplant am Montag, sondern schon am Sonntag ankommen. Ein Zimmer ab Sonntag ist aber kein Problem, gleich das erste Hotel, das ich anrufe, das preisgünstigste unter denen, die in meinem Reiseführer als „gehobener Komfort“ stehen, hat eines frei. Ich nehme mein Abendessen in der Pension, zum Kaffee bekomme ich ein Glas Rum aufs Haus.

 

Sonntag, 23. August, Karlštejn-Praha, 50 km

 

Ich bin anscheinend der einzige Gast, der hier frühstückt. Es gibt kein Buffet, sondern der Wirt fragt, was ich haben möchte, und mir wird ein köstliches Omelett mit Speck und Käse und Tomaten und Gurken bereitet. So gestärkt fahre ich hinauf zur Burg und habe Glück: früh am Sonntagmorgen ist es noch nicht so voll, alle zehn Minuten startet eine Führung ihre Tour durch die Burg (jede wird am Eingang von einem Fanfarenchor begrüßt), und gleich die übernächste ist auf Englisch.

Die Burg gilt als die schönste und bedeutendste mittelalterliche Burg Tschechiens. Sie war nie der Hauptwohnsitz einer Adelsfamilie, sondern wurde im 14. Jhdt. vom König Karl IV. ge­baut, der auch Kaiser des Heiligen Römischen Reiches war. Karl residierte in Prag, machte Prag zur zeitweiligen Quasi-Hauptstadt des Reiches und gründete dort die erste Universität nördlich der Alpen. Karlštejn diente als Sommerresidenz und als sicherer Verwahrungsort für den Staatsschatz und die Reichskleinodien (diese liegen aber inzwischen teils in der Prager Burg, und zum größeren Teil, nachdem die letzten Kaiser des Reiches Habsburger gewesen waren, in Wien). Dass das Heilige Römische Reich sich tatsächlich in der Nachfolge Roms sah, zeigt ein SPQR-Wappen in einer Fensternische direkt neben dem Thron im Audienzsaal.

Die knapp einstündige Führung geht durch verschiedene Innenräume mit teilweise originaler Möblierung und liefert viele Informationen über die Burg und ihre Geschichte. Leider bein­haltet sie nicht die Besichtigung des Bergfrieds, des Hauptturms der Burg, mit der darin ent­hal­te­nen Heiligkreuzkapelle, dem kulturhistorisch bedeutendsten Teil der Burg. Führungen durch diesen Teil der Burg müssen im Voraus gebucht werden. So bleibt mir nach der „kleinen“ Führung nur, den Blick in die Landschaft zu genießen.

Danach muss ich nur noch knapp 50 km nach Prag fahren. Unterwegs gönne ich mir einen Imbiss auf der Terrasse des „Grand Hotels“ (sieht eher aus wie ein Schreber­gärtner­vereins­haus; auf der Terrasse stehen Biergartengarnituren) in Revnice. Die Beschil­derung des Radwegs Nr. 3 endet in Černošice, aber hier braucht man keine Wegweiser mehr: der Weg führt in unterschiedlicher Qualität am Ufer der Berounka entlang, bis zu deren Mündung in die Vltava = Moldau, dann an dieser entlang direkt in die Stadt. Man muss sich nur irgend­wann zwischen dem linken und dem rechten Ufer entscheiden, weil dann längere Zeit keine Brücken mehr kommen. Meine Wahl des rechten Ufers führt dazu, dass ich auf einer stark befahrenen Straße durch einen Vorort fahren muss, um vom linken Ufer der Berounka zum rechten Ufer der Moldau zu gelangen. Aber auf deren rechten Ufer liegt Vyšehrad, der von Mythen umrankte Burgberg im Süden Prags, den ich mir ansehen will, bevor ich in den eigentlichen Stadtkern hinein fahre. Heute beherbergt der Berg einen kleinen Park mit herrlichem Blick auf die Moldau von Aussichtspunkten und -terrassen auf der ehemaligen Festungsmauer, Ausflugs­restaurants, mehrere historische Kapellen, eine gotische Kathedrale und einen wunderschönen Fried­hof, auf dem neben vielen anderen Prominenten Smetana und Dvořak liegen.

Nachdem ich mir einen Kaffee und ein Stück Medovník gegönnt habe, fahre ich weiter zu meinem Hotel, das am nördlichen Rand der Altstadt direkt neben dem Agneskloster liegt und das laut Hotelprospekt ursprünglich ein Nonnenwohntrakt des Klosters gewesen war. Der Weg durch die Altstadt ist mühsam. Es gibt keinen Radweg, die Hauptstraße am Moldauufer ist zwar asphaltiert, aber der Autoverkehr ist sehr dicht und in den Straßen liegen so tiefe Gullies, dass ich Angst um meine Felgen und Speichen bekomme. Die Nebenstraßen und Seiten­gässchen sind zwar weitgehend frei von Autoverkehr, aber mit grobem Kopfstein ge­pflastert, so dass man da auch nicht richtig Rad fahren kann. Am Ende bin ich froh, dass ich das Rad jetzt zwei Tage im Hotel stehen lassen und mich zu Fuß bewegen kann.

Nachdem ich geduscht habe, mache ich einen ersten „Orientierungs­rundgang“ durch die Alt- und Neustadt. Auf dem Altstadtplatz, Staroměstské náměstí, fallen neben den prächtigen Bürgerhäusern und dem Jan-Hus-Standbild natürlich die Teynkirche mit ihren beiden Türmen und das alte Rathaus mit seiner astronomischen Uhr und einem stünd­lichen „Männlalaufen“ besonders ins Auge. Der berühmte Wenzelsplatz, Václaské náměstí, hingegen enttäuscht mich genauso wie der Champs-Élysées in Paris: kein Flair, nur ein breiter Boulevard mit viel­spurigem Autoverkehr und Konsum­tempeln beidseits. Aber auch sonst erinnert mich Prag an Paris: die Altstadt besteht großenteils aus Patrizier­häusern aus dem 19. Jhdt., mit gründer­zeitlichen Stuckorna­men­ten. Während aber in Paris alle Fassaden weiß getüncht sind, sind sie hier farbig gestaltet und wirken dadurch lebendiger. Wie in Paris finden sich überall kleine Cafés und Kneipen, Restaurants, Läden und Galerien. Anders als in Paris, wo Notre-Dame eigentlich das einzige auffällige alte Bauwerk ist, findet man in Prag noch überall mittel­alterliche Gebäude, Kirchen und Kapellen und Teile der Stadtbefestigung. Auf der berühmten Karlsbrücke, Karlův most, nutze ich die Kombination von letztem Rest Tageslicht und Kunst­licht für den Versuch eines Fotos von der Burg.

Am Ende meines Rundgangs stehe ich in Josefov, dem alten jüdischen Viertel, plötzlich vor dem „King Solomon“, das mein Reiseführer als bestes koscheres Restaurant in Prag preist. Ich lasse den Tag also in einem hübschen Wintergarten mit einem köstlichen Lammfilet mit verschiedenen Gemüsen und einem sehr guten offenen Rotwein ausklingen.

 

Montag, 24. August, Praha

 

Heute will ich mir die Burg ansehen. Der direkte Weg vom Hotel dorthin führt wieder durch Josefov. Auf dem Weg besichtige ich die Spanische Synagoge, die als die schönste Prags gilt, und der Innenraum ist wirklich überwältigend schön. Der zentrale Raum ist überwölbt von einer großen Kuppel und umringt von drei Seitenkapellen (nennt man die in Synagogen so?) mit Emporen und Tonnengewölben. Alle Wände, Gewölbe und Pfeiler sind äußerst reich und farbenfroh verziert mit orientalisch anmutenden Motiven. Leider darf man nicht fotografieren.

Die Synagoge wird nicht mehr für religiöse Zwecke genutzt, der Zentralraum beherbergt eine Ausstellung von historischen Dokumenten sowohl über die Ausgrenzung der Prager und tschechischen Juden aus der Gesellschaft als auch ihre Versuche (Erfolge und Rückschläge) der Integration, die hier auch als Assimilation bezeichnet wird. Der Ausstellung entnehme ich unter Anderem, dass es zur Zeit der Reformation und Aufklärung auch in den jüdischen Gemeinden eine Reform­bewegung gab, in der auch die Architektur der Gottes­häuser und der Ablauf der Gottesdienste ähnlich den reformiert-christlichen gestaltet wurden, einschließlich Orgelmusik. Dazu passen meine Eindrücke aus der Großen Synagoge in Plzeň.

Die so genannte Altneusynagoge (ein irreführender Name: es ist schlicht die älteste noch stehende Synagoge der Welt) besichtige ich nicht von innen. Stattdessen fotografiere ich nur das daneben stehende jüdische Rathaus mit seinen beiden Turmuhren, eine mit römischen, eine mit hebräischen Ziffern, und entsprechend der unterschiedlichen Fließrichtung der lateinischen und hebrä­ischen Schrift laufen auch die Zeiger der beiden Uhren in unter­schied­licher Richtung.

Nicht über die Karlův most, sondern auf dem kürzesten Weg über die nördlichere Mánesův most überquere ich die Moldau und nähere mich der Burg vom Hinter­eingang her, durch „Wenzels Weingarten“. Da ich noch kein Ticket habe, komme ich noch nicht ins „Goldene Gässchen“, sondern schlendere erst einmal durch die Gassen der Burg zum Veitsdom. Der Dom ist die einzige Sehenswürdigkeit in der Burg, die keinen Eintritt kostet, dafür steht vor dem Eingang eine über hundert Meter lange Schlange. Nachdem ich in der Touri-Information einen Audio-Guide und eine Eintrittskarte für die übrigen Sehenswürdig­keiten der Burg erworben habe, erfahre ich, dass der Audio-Guide mich berechtigt, den Dom unter Umgehung der Schlange durch den Ausgang zu betreten. Vorher fotografiere ich noch die Gargoyles über dem Eingang. Die Perspektive und die anscheinend vom hellen Boden auf dem Platz verursachten Lichteffekte geben dem Bild einen etwas surrealen Touch, mit dem ich nicht gerechnet habe.

Der Dom ist prächtig, gewaltige Glasfenster, unter anderem ein (unverkennbar) von Mucha gestaltetes. Der Audio-Guide enthält ausführliche Informationen zu jeder Kapelle. Gleich die erste, die Agnes-Kapelle fasziniert mich. Neben einer Statuette, die natürlich Agnes zeigt, findet sich ein Mosaik aus der ersten Häfte des 20. Jhdts., das ein Lamm (lat. agnus, ein gewolltes Wortspiel?) zeigt, und ein Wandbild, das wieder Agnes zeigt, aus dem 16. Jhdt. stammen soll, mich aber eher an sozialistischen Realismus erinnert. So unter­schiedliche Variatio­nen über ein Thema auf so engem Raum. Leider ist sowohl der Chorumgang und damit der Zugang zum massiv silbernen Nepomuk-Reliquienaltar als auch die Besteigung des Südturms „aus technischen Gründen“ gesperrt. Aber ich muss einmal mehr die Kunstfertig­keit der gotischen Baumeister bewundern, einen lichtdurchfluteten Innenraum zu schaffen, dessen Wände nur aus Glas zu bestehen scheinen, indem die Last der Decke nicht nur von den relativ zierlichen in die Wände integrierten Pfeilern getragen wird, sondern zum großen Teil an Pfeiler abgeleitet wird, die außerhalb des Kirchenschiffs stehen, den so genannten Diensten.

Nach dem Dom besichtige ich den alten Königspalast. Die größte zugängliche Sehens­würdig­keit darin ist der gewaltige Vladislav-Saal mit seinen elegant geschwungenen, geradezu organisch wirkenden Kreuzrippengewölben, der natürlich für Krönungsfeierlich­keiten und Audienzen, aber zeitweilig auch als Markthalle oder als Austragungsort für Ritterturniere (!) genutzt wurde. Außerdem kann man die Räume der Böhmischen Kanzlei sehen, wo 1618 zwei Beamte des Königs und ein Schreiber von protestantischen Aufständi­schen aus dem Fenster geworfen wurde, der so genannte zweite Prager Fenstersturz, der als Auslöser des 30-jährigen Krieges gilt. Der erste fand fast genau zweihundert Jahre früher im Rathaus statt und stand am Beginn der Hussitenkriege.

Die St. Georgs-Basilika ist weit weniger gewaltig als der Veitsdom, in dessen Schatten sie steht, aber zweihundert Jahre älter. Eigentlich noch viel älter: sie wurde fertiggestellt zweihundert Jahre bevor mit dem Bau des Doms begonnen wurde, und der durch Kriege mehrfach unterbrochene Bau des Doms erstreckte sich über fünf Jahrhunderte. Die später vorgesetzte Barock-Fassade der Basilika täuscht darüber hinweg, dass es sich eigentlich um einen romanischen Bau handelt. Der Innenraum ist beeindruckend schlicht gehalten. Witzig sind die beiden auf den ersten Blick gleichen, bei näherem Hinsehen aber unterschiedlich breiten Glockentürme, im Volksmund Adam und Eva genannt.

Das „Goldene Gässchen“ besteht aus einer Reihe von winzigen Häuschen an der nördlichen Burgwand. Ursprünglich als Unterkünfte der Burgwachen erbaut, haben diese sie später vermietet oder verkauft, so dass verschiedenste Kunsthandwerker hier einzogen. Heute beherbergt jedes einen anderen, spezialisierten Souvenirshop. Art nouveau, antiquarische Bücher, mittelalterliche Waffen, und natürlich jede Menge Kunsthandwerk und Kitsch, hier gibt es Souvenirs für jeden Geschmack und Geldbeutel. Am Ende des Goldenen Gässchens steht ein ehemaliger Wachturm, der später als Gefängnis und als Folterkammer genutzt wurde.

Nach einem kurzen Spaziergang durch den Schlossgarten nördlich der Burg (das Gartenpalais „Belvedere“ ist leider wegen Restaurierungsarbeiten nicht zu besichtigen) und durch den „Paradiesgarten“ am südlichen Hang des Burgbergs (dort sind die aus dem Fenster gestürzten Männer unverletzt gelandet) verlasse ich die Burg wieder über Wenzels Weingarten, diesmal nehme ich aber noch einen Imbiss in dem dort befindlichen Terrassenlokal. Die Weinkarte ist eine Broschüre mit Informationen über die tschechischen Weinbaugebiete. Ich trinke einen Grünen Veltliner aus Mähren, den mir der Kellner empfiehlt.

Anschließend steige ich hinunter zur Kleinseite, der Mála strana. Kurzer Rundgang durch den Garten des Wallenstein-Palais´ mit der barocken, üppig mit Fresken mit Motiven aus dem trojanischen Krieg verzierten Sala terrena, sowie durch die Gassen der Kleinseite. In der barocken Nikolai-Kirche faszinieren mich vor allem die Deckenfresken mit ihren frappieren­den perspektivischen Effekten. Kaffee und Kuchen am Kleinseitner Platz, Malostranské náměstí, diesmal kein Medovník, sondern eine sehr leckere Pistazientorte.

Nachdem ich die stets vor Touristen und den ubiquituosen Portrait- und Karikaturenzeichnern wimmelnde Karlsbrücke überquert habe, spaziere ich am Moldau-Ufer entlang und bewunde­re einmal mehr die Fassaden der Wohnhäuser mit ihren Jugendstil-Stuckornamenten. Und ich foto­grafie­re noch einmal das „Tanzende Haus“ des amerikani­schen Architekten Frank O. Gehry, das mir schon aufgefallen war, als ich gestern mit dem Fahrrad hier entlang fuhr. Ein eigen­artiger, aber durchaus reizvoller Kontrast zum Jugendstil drum herum.

Abends kehre ich im U Fleků ein, einer Bierkneipe mit 500-jähriger Tradition – und heutiger Massenabfertigung: ich sitze kaum, da steht schon das erste Glas dunklen Biers vor mir, bevor ich überhaupt irgendetwas bestellt habe. Auch mein Gulaš wird sehr schnell serviert, an der Qualität habe ich aber nichts auszusetzen. Als ich ins Hotel komme, falle ich sofort ins Bett und schlafe ein. Ein Tag Herumschlendern in praller Sonne ist anstrengender als ein Tag Fahrradfahren.

 

Dienstag, 25. August, Praha

 

Nach der gestrigen „Anstrengung“ lasse ich den heutigen Tag ruhig angehen. Ich gehe zunächst wieder zum Altstadtplatz, mal sehen, ob sich da im Morgenlicht andere Fotomotive ergeben als vorgestern und gestern, als ich abends dort war. Anscheinend lassen sich Hochzeitspaare gern in diesem Licht vor der astronomischen Uhr des Altstädter Rathauses ablichten.

Dann gehe ich weiter zum Mucha-Museum, eine kleine, aber hübsche Ausstellung, mit vielen Sarah-Bernhardt-Plakaten, einschließlich Probedrucken davon. Es werden aber auch Foto­grafien gezeigt, interessant finde ich die von Modellen in seinem Studio, in genau den Posen, die sich in seinen Bildern wieder finden. Es gibt auch einige wenige expressionistische Ölbilder zu sehen, eines zeigt eine einsame auf dem Boden sitzende Frauengestalt mit zum Himmel gerichtetem Blick in einer weiten, leeren Schneelandschaft. Auch hier ein Foto daneben mit einem Modell, diesmal ist es Muchas Ehefrau, in derselben Pose in seinem Studio.

Der Souvenirshop bietet den üblichen Schnickschnack (Mousepads, Wassergläser, Bier­deckel, Tagebucheinbände, Lesezeichen) mit Mucha-Motiven. Der Art-nouveau-Shop im Goldenen Gässchen hatte originellere Sachen, ich ärgere mich ein wenig, dass ich da kein Geschenk für Anja gekauft habe, weil ich vom Shop im Museum mehr erwartet hatte.

Auf dem Rückweg in die Altstadt mache ich beim Gemeindehaus halt, einem repräsentativen bis monströsen Jugendstil-Prachtbau, und gönne mir Kaffee und Kuchen im dortigen Café. Der Eintritt für den Pulverturm wird von „Stadt­wachen“ in mittelalterlicher Rüstung kassiert, wie anscheinend bei allen Turmbesteigungen in Prag, die gleichen Kostüme waren mir auch schon bei den Brückentürmen der Karlsbrücke aufgefallen. Als ich wieder am Altstadtplatz ankomme, steht vor dem Jan-Hus-Denkmal der Golem, und Japaner lassen sich mit ihm fotografieren.

Ich lasse mich den größten Teil des Nachmittags ohne konkretes Ziel durch die Gassen der Altstadt treiben. Alte Landkarten und Atlanten in einem Antiquariat und ein abstraktes Bild in einer Galerie faszinieren mich, aber ich kann mich nicht zum Kauf eines Souvenirs durch­ringen. Ich fotografiere Fassaden, malerische Plätze, eine uralte romanische Rotunde, die anscheinend noch als katholische Kirche genutzt wird, originelle Skulpturen im Hof des Clementinums, ein Kneipenschild, das dem Touristen klar macht, was ihn drinnen erwartet.

Schließlich steige ich auf den Letná (eine Art Vorexkursion: morgen wird meine Radtour auch mit diesem Anstieg beginnen), den Hügel in einer Moldauschleife nördlich der Altstadt und stehe plötzlich vor dem Postkartenblick auf die Brücken Prags. Auf dem Gipfel des Letná wurde in den 50er Jahren eine monumentale Stalin-Statue errichtet. Nachdem Chruschtschow die Abkehr vom Stalinismus eingeleitet hatte, wurde die Statue bereits 1962 wieder gesprengt, und der Hügel blieb kahl, bis in den 90ern hier ein riesiges Metronom aufgestellt wurde.

Abends gehe ich italienisch essen. Ich vergesse, nach offenen Weinen zu fragen, bestelle einen Montepulciano und bekomme eine Flasche desselben. Der Salat mit Orangen und Parmesan, den ich als Vorspeise nehme, wird in einem Weckglas serviert, mag originell sein, ist aber etwas unhandlich. Das Hauptgericht ist ein Türmchen aus Stücken von Rinderfilet, Gemüsen und einer Art Waffeln aus dünn und geriffelt geschnittenen, knusprig gebackenen Käsescheiben. Das Auge soll hier offenbar mit essen. Auf dem Rückweg zum Hotel spüre ich die Flasche Wein, zum Glück ist es nicht weit.

 

Mittwoch, 26. August, Praha-Roudnice, 90 km

 

Ich will am Freitag oder spätestens Sonnabend früh in Dresden ankommen, damit ich nach viereinhalbstündiger Zugfahrt in Nürnberg noch für die nächste Woche einkaufen kann, ab Montag muss ich ja wieder arbeiten. Es sind über 200 km, also muss ich Strecke machen, jeden Tag mindestens 70 km, und wieder sind Wege unterschiedlicher Beschaffenheit angekündigt.

Nach dem kurzen, steilen Anstieg geht der Weg durch den Park auf dem Letná, auf der anderen Seite des Hügels wieder an die Moldau hinunter und dann am anderen Ufer am Schloss Troja und dem Prager Zoo vorbei. Wie auf den letzten Kilometern nach Prag hinein, ist auch auf den ersten Kilometern aus Prag hinaus die Beschilderung des Weges (eigentlich die Nr. 2 des tschechischen Radwegenetzes) noch sehr lückenhaft, ich muss mich an der Karte orientieren. Nach einer sehr holprigen Uferstrecke und dann einem steilem Anstieg in Klecany, an dem ich, keuchend zwar, an einigen schiebenden Fahrradfahrern vorbeiziehe, verfahre ich mich prompt – eigene Dusseligkeit: Die Karte sagte, scharf links abbiegen, ich fahre geradeaus. Als ich merke, dass ich falsch bin, ärgere ich mich, dass ich für diesen Teil der Tour nicht die Karten von ShoCart gekauft habe, ich hatte ja noch den bikeline-Führer für den Elberadweg. Die bikeline-Karte zeigt nur den Elberadweg, nichts links und rechts davon, insbes. nicht die Wegnummern anderer Wege, die teils streckenweise mit dem Elberadweg identisch sind, teils ihn kreuzen, deren Beschilderung ich häufiger sehe als die 2 und an denen ich mich mit den ShoCart-Karten hätte orientieren können. Nun denn – bis Klíčany muss ich nun auf einer sehr stark befahrenen Straße fahren, dann komme ich auf einer ruhigen Straße über Hoštice zurück auf die Radroute – nur um in Vodochody den Abzweig zum Flussufer nicht zu finden. Stattdessen fahre ich in die Richtung, aus der mir Radler entgegen kommen, laut bikeline eine Nebenstrecke, über Máslovice. Dadurch gelange ich erst wieder in einem Industriegebiet bei Kralupy an die Moldau, von dort an finde ich dann aber auch wieder eine brauchbare Beschilderung vor.

Die heutige Strecke ist weder landschaftlich noch von den Ortschaften her besonders reizvoll. Zu den wenigen Ausnahmen gehören Schloss und Park Veltrusy und ein – allerdings schwer befahrbarer (zusätzlich erschwert durch Sturmschäden: umgestürzte Bäume liegen auf dem Weg) – Streckenabschnitt durch eine Heide- und Moorlandschaft kurz vor Mělník, mit schönen Blicken auf das dortige Schloss.

Davor bin ich bei Bukol/Lužek der Empfehlung von bikeline und eines Gästebucheintrags auf der Web-Seite des PPP gefolgt, mit der Gierfähre überzusetzen, statt etwas weiter fluss­abwärts bei Vbrno eine Brücke zu nehmen, zu der man über eine Treppe hinaufsteigen muss, was mit einem bepackten Reiserad kein Vergnügen ist. Die Fähre ist leicht zu übersehen, nur eine handgeschriebene Tafel an der Straße, die nicht direkt zur Fähre führt, sondern ein Stück entfernt parallel zum Ufer verläuft, weist auf sie hin, zum Glück auch auf Deutsch, sonst hätte ich den Hinweis wohl nicht bemerkt. Der Fährmann gibt mir noch den Tipp, auch auf der anderen Seite nicht direkt an der Moldau entlang, sondern auf der Straße nach Vbrno zu fahren. Erst ab dort fahre ich dann wieder auf der Hauptstrecke, jenem bereits erwähnten unbefestig­ten Weg an einem Kanal entlang durch Heide und Moor nach Mělník.

In Mělník mündet die Moldau in die Elbe. Obwohl das Schloss sehr schön sein soll und der Blick von weitem viel versprechend war, nehme ich mir nicht die Zeit für eine Besichtigung. Eigentlich wollte ich gar nicht nach Mělník hinein fahren, aber eine Sperrung des links­elbischen Hauptweges (diesmal wirksam abgesperrt) zwingt mich dazu, zumindest auf das rechte Ufer zu wechseln. Den Anstieg in den Ortskern hinauf spare ich mir dennoch, da ich ja Strecke machen will. Ich leiste mir nur eine kurze Mittagspause im Biergarten eines kleinen Gasthauses an der Ausfallstraße, Hähnchenbrust mit Pflaumensauce und natürlich pivo.

Štĕtí ist die mit Abstand hässlichste Stadt, die ich auf der Tour sehe. Nur Plattenbauten und Discount-Märkte. Von hier aus geht es wieder linkselbisch weiter. Im winzigen Dörfchen Račice komme ich an einem Sportgelände vorbei, vor dem große Mengen von Bussen parken: auf den hiesigen Kiesgruben finden gerade Drachenbootregatten statt.

Als ich in Roudnice ankomme, geht die Welt unter. Wolkenbruchartiger Regen, nach wenigen Minuten laufen Gullies über, und das heftigste Gewitter, zumindest von der Lautstärke her, das ich je erlebt habe. Eigentlich hatte ich bis Litomĕřice weiterfahren wollen, aber bei dem Wetter suche ich mir lieber hier eine Unterkunft. Das schick aussehende Hotel Amber ist ausgebucht. In der Touri-Info erfahre ich, dass die Aussichten, ein freies Zimmer zu finden, schlecht seien, weil gerade Wallfahrten zum nahe gelegenen Berg Říp stattfänden, von dem aus der mythologische Landesvater Čech nach langer Wanderung das Land für sein Volk in Besitz genommen hat. Wenn schon das Amber ausgebucht sei, das teuerste Hotel in der Stadt… Die freundliche Dame gibt mir einen Stadtplan, zeichnet selbst die Lage der Hotels und Pensionen von Roudnice ein, und empfiehlt mir, es zunächst im Koruna zu versuchen. Tatsächlich bekomme ich dort ein Zimmer. Das Hotel ist eher jugend­herbergsartig, mein ansonsten spärlich möbliertes Zimmer hat fünf Betten, ich habe es aber für mich allein, weil ich den Preis für ein „Hotelzimmer“ zahle. Für deutlich weniger Geld gibt es dasselbe Zimmer mit Mehr­fachbelegung. Ich muss im Voraus bezahlen und bekomme einen Gutschein für das Frühstück im Restaurant, das sich im selben Haus befindet, aber nicht zum Hotel gehört.

Kurzer Stadtrundgang, nachdem ich geduscht habe und das Gewitter aufgehört hat: eigentlich ist der Ort ganz hübsch, ein prächtiges Schloss, dessen Seitentrakte aber stark renovierungs­bedürf­tig aussehen, das sich in Privatbesitz befindet und nicht besichtigt werden kann, ein netter Marktplatz, einige malerische Seitenstraßen mit bunten Fassaden, eine originelle Kirche, die neben den beiden Türmen am Schiff noch einen dritten, separat stehenden Glockenturm hat. Einige Seitenstraßen sind noch dabei, hübsch zu werden, jetzt sind sie erst einmal Baustellen.

Abendessen im Restaurant unter dem Hotel. Gut besucht, junges einheimisches Publikum. Das erste auf der Tour, das keine deutsche oder englische Karte hat. Penne und Gorgonzola heißen auf Tschechisch aber genauso, und nach mehreren vergeblichen Versuchen, vino bílá richtig auszusprechen, hat die sehr aufmerksame Kellnerin verstanden, dass ich Weißwein haben möchte. Vodá bekomme ich anscheinend besser hin (klingt ja auch fast genauso wie auf Plattdeutsch), das versteht sie auf Anhieb.

 

Donnerstag, 27. August, Roudnice-Děčín, 70 km

 

Als ich starte, ist das Flusstal in malerischen Nebel gehüllt, der sich beim Fahren in Tröpfchen auf meinem Arm niederschlägt. Der Nebel erzeugt die richtige Atmosphäre für meine Ankunft nach wenigen Kilometern in Terezín = Theresienstadt, zumal ich beim Friedhof ankomme.

Terezín ist eine Kleinstadt, die zur Habsburger Zeit angelegt wurde und von einem noch vollständig erhaltenen Festungs­gürtel umgeben ist. Nach der Besetzung der Tschecho­slowakei durch das Dritte Reich wurden die 6.000 Einwohner zwangsumgesiedelt und aus der Stadt ein Ghetto gemacht, in das bis zu 70.000 Juden eingepfercht wurden.

In der der Stadt vorgelagerten „Kleinen Festung“, die schon zu k.u.k.-Zeiten als Gefängnis genutzt wurde, richtete die Gestapo ein Gefängnis für politische Gefangene ein, das genau so aussieht, wie man sich ein KZ vorstellt. Gleich mehrere deutsche und österreichische Schul­klassen besichtigen die Kleine Festung. Einen merkwürdigen Kontrast zur bedrücken­den Atmosphäre in der Anlage bilden die zutraulichen Biber im Festungsgraben.

In der Stadt sehe ich mir das Ghetto-Museum mit seiner sehr ausführlichen Ausstellung über die Geschichte des Ghettos im Speziellen und die „Endlösung der Judenfrage“ im Allge­meinen an. In der Ausstellung in der Spanischen Synagoge in Prag hatte ich gelernt, dass der Begriff der „Lösung der Judenfrage“ eigentlich aus der zionistischen Bewegung um Theodor Herzl stammte und die Schaffung eines jüdischen Staates meinte, als einzigen Weg, Juden ein Leben frei von Ausgrenzung und Repression zu ermöglichen. Die Verballhornung dieses Begriffs zur „Endlösung“ zeigt einmal mehr den Zynismus der Nazis.

Im „Raum der Kinder“ stehen an den Wänden die Namen von zehntausend Kindern, die zeitweilig im Ghetto gelebt haben, bevor sie in die Vernichtungslager weiter transportiert wurden. In Vitrinen sind Bilder und Gedichte der Kinder ausgestellt, in denen sie ihre ganz normalen Kinderträume und -hoffnungen ausdrücken, in denen aber auch deutlich wird, dass ihnen sehr bewusst war, was ihnen bevorstand. Ein kurzes Gedicht heißt „der Rosengarten“. Ich bekomme die exakten Worte nicht mehr zusammen, aber sinngemäß: ein Knabe geht durch einen Rosengarten und freut sich an den Rosen. Wenn sie aufgeblüht sind, wird der Knabe nicht mehr sein.

Anlässlich einer Einladung zu einer Inspektion durch das Internationale Komitee des Roten Kreuzes wurde das Ghetto 1944 „verschönert“ (was nicht schwer fiel: Terezín ist ja ein ganz hübsches Städtchen) und die Überbelegung durch vorgezogene Abtrans­porte in die Vernichtungs­lager reduziert, damit den Inspektoren geordnetes Ghetto-Leben unter menschen­würdigen Bedingungen vorgegaukelt werden konnte. Anschließend wurde noch ein Propaganda­film gedreht: „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt.“

Nach der Besichtigung der Kleinen Festung und des Ghetto-Museums ist es Mittag, und es heißt wieder Strecke machen bis Děčín. Kein Halt in Litomĕřice oder Ustí, schon gar kein Abstecher (mit steilem Anstieg) zur malerischen Burg Střekov (Schreckenstein). Aber die Landschaft wird immer reizvoller, ich nähere mich dem Elbsandsteingebirge.

Das Hotel Česká Koruna in Děčín bietet durchaus ansprechenden Komfort, laut der Dame an der Rezeption bekomme ich das letzte freie Zimmer. Über der Stadt thront ein Schloss, zu dem eine etwa einen Kilometer lange, schnurgerade, stetig ansteigende, von hohen Mauern eingefasste und durch perspektivische Tricks (zum Schloss hin wird die Einfassungsmauer niedriger) optisch noch verlängerte Straße, der so genannte „lange Ritt“ hinauf führt. Leider komme ich zu spät für eine Besichtigung. Den Schlosshof und den Rosengarten kann ich mir aber noch ansehen. Mich irritiert der Sinnspruch auf einer Sonnenuhr im Schlosshof: me sol vos umbra regit – mich leitet die Sonne, euch der Schatten. Kann ein Schlossherr (natürlich ein Deutscher: das Schloss gehörte bis zum Krieg einer Familie von Thun) die Gering­schätzung seiner „Untertanen“ noch deutlicher, noch abfälliger ausdrücken? Aber vielleicht unterstelle ich da auch nur etwas, und mit „ich“ ist in dem Spruch nur die Sonnenuhr selbst gemeint, während der Schlossherr sich auch zu denjenigen zählte, die vom Schatten geleitet werden.

Zum Abendessen zurück auf der Terrasse des Hotels sehe ich, warum das Zimmer, das ich bekommen habe, das letzte freie war: das Hotel ist voller deutscher Wandertouristen, die zum Abend­essen in Massen einfallen, für selbstverständlich halten, dass die Kellner deutsch sprechen, nicht einmal versuchen, zumindest „Guten Abend“ auf tschechisch zu sagen, und sich beschweren, als der Kellner ankündigt, dass es eine halbe Stunde dauern könnte, bis das Essen serviert werden kann. Heute ist der richtige Tag, um sich dafür zu schämen, Deutscher zu sein.

 

Freitag, 28. August, Děčín-Dresden, 90 km

 

Am Frühstückstisch sitze ich mit einem Paar in den 50ern aus München zusammen, die nicht zu der Wanderergruppe gehören (die sind alle eher um 70), sondern ebenfalls Prag-Dresden mit dem Rad fahren, eine organisierte Tour mit Gepäcktransport (aber nicht wie bei meiner Venetien-Tour im April mit Begleitfahrzeug, dessen Fahrer mittags ein Picknick­buffet aufbaut, auch ohne mitfahrenden Reiseleiter). Sie erzählen mir vom jüdischen Museum in Prag, das ich ja nicht gesehen habe, in dem sie am stärksten der Raum der Kinder beein­druckt hat. Später wird mir Anja erzählen, dass es auch in Yad Vashem einen solchen Raum der Kinder gibt.

Der Grenzübergang auf dem gut ausgebauten und ruhigen linkselbischen Radweg (die Straße mit Autoverkehr verläuft rechtselbisch) ist kaum bemerkbar: nicht nur nicht besetzte Wärter­häuschen, sondern überhaupt keine Wärterhäuschen! Nur ein Pfosten, der in den tschechi­schen Landesfarben gestrichen ist. Was soll dann der Hinweis von bikeline, dass dieser Übergang am Wochenende nur bis 19 Uhr (unter der Woche bis 23 Uhr) geöffnet sei? Wie sieht der aus, wenn er nicht offen ist? Ich sehe weder einen Schlagbaum noch andere Absperrmöglichkeiten. Kurz nach der Grenze passiere ich eine Stelle, an der auf dem rechten Ufer, das hier noch tschechisch ist, ein Bach einen malerischen Durchbruch durch die Wand der Elb­schlucht geschaffen hat.

Bis Bad Schandau werde ich von kräftigem Rückenwind (so etwas gibt es also doch; bisher hatte ich den so genannten Rückenwind für eine urbane Legende gehalten) angetrieben und rechne mir aus, dass ich am frühen Nachmittag in Dresden sein werde und noch genügend Zeit für eine Besichtigung von Schloss Pillnitz haben werde, das ich mir bei meinem bisherigen beiden Dresden-Besuchen noch nicht angesehen habe.

In Bad Schandau wechsele ich aufs rechte Ufer (und habe von der Brücke noch einmal einen malerischen Blick stromaufwärts), weil es auf dem linken bis Königsstein auf einer Bundes­straße weiter gehen würde. In Königsstein hätte ich wieder auf die linke Seite wechseln sollen. Ich lande nicht auf dem vom bikeline-Guide beschriebenen schlecht befahrbaren Trampelpfad an der Elbe (habe ich einen Wegweiser übersehen?), sondern fahre auf einem Weg durch den Wald, der immer steiler immer höher hinauf führt und dabei immer matschiger und holpriger wird und nicht schlecht, sondern streckenweise gar nicht befahrbar ist. Mehrmals geht es über Treppen mit grob in den Fels bzw. in die Wurzeln gehauenen und stark ausgetretenen und ausge­wasche­nen, schlecht befestigten Stufen. Der Matsch saut mir die Felgen voll und ich fürchte, die nächsten Bremsmanöver werden mir Riefen in die Felgen fräsen. Als ich endlich wieder ein Stück fahren kann, reißt es mir an einer Unebenheit mal wieder die Tasche vom Träger, aber diesmal passiert mehr: der Riemen, mit dem die Tasche am unteren Trägerrohr verspannt wird, löst sich vom Trägerrohr, bleibt vermutlich an einer Speiche hängen, wickelt sich mehrfach um Nabe und Ritzel, reißt dabei seine Befestigung an der Tasche ab und blockiert schließlich das Hinterrad. Ich muss den Kettenschutz ab­montie­ren, um den Riemen zwischen Kette und Ritzel herausfummeln zu können. Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert, keine Speiche gerissen oder derartiges. Nach der feld­mäßigen kleinen Reparatur kann ich problemfrei weiterfahren, die Tasche selbst ist unbeschä­digt und  ich kann sie auch ohne Verspannung einhängen (die Verspannung hat sie ja eh nicht vorm Losreißen bewahrt). Aber genervt bin ich dennoch, und meine Hände sind schwarz. Bevor ich weiterfahre, warne ich noch einen entgegenkommen­den Fahrrad­fahrer vor dem Wegstück, er setzt sich zu mir und wir tauschen unsere Radreise­erfahrungen aus. Er ist Rentner und verbringt praktisch das ganze Jahr mit Radreisen, immer Zelt dabei, denn das ganze Jahr in Hotels wäre dann doch zu teuer.

In Rathen will ich mich ein wenig erholen und stärken (und die Hände waschen), aber in dem Lokal auf dem Markt­platz, in dem ich mich niederlasse, bedient man mich nicht. Nach einer Viertelstunde hat sich einmal eine Kellnerin blicken lassen und von anderen Gästen, die nach mir gekommen waren, die Bestellungen aufgenommen und ihnen Getränke serviert, mich aber ignoriert. Ich gehe zur Toilette, aber der Seifenspender ist leer. Mir reicht´s, mit immer noch schwarzen Händen fahre ich weiter. In einem kleinen Lokal auf halber Strecke zwischen Stadt Wehlen und Pirna/Copitz, versuche ich es noch einmal. Hier bin ich der einzige Gast, werde sofort bedient, und auf der Toilette gibt es auch Seife, jetzt sind nur noch meine Fingernägel schwarz, eine Nagelbürste habe ich natürlich nicht dabei. Die Gaststube ist winzig, nur zwei Tische und ein kleiner Tresen, und urgemütlich, Natursteinwände und Massivholzbänke, aber ich habe auf der Terrasse Platz genommen.

Als ich weiter fahre, hat der Wind gedreht, bis Dresden kämpfe ich gegen den Wind, der mich bis Königstein so nett angetrieben hatte. Nach der Panne auf dem nicht befahrbaren Wald­abschnitt und dem Kampf gegen den Wind habe ich keine Lust mehr auf den Abstecher zum Schloss Pillnitz. Und eigentlich auch keine Zeit: der Waldabschnitt, die Panne, die eigentlich nicht vorgesehen gewesene Mittagspause und der vergebliche Versuch einer solchen in Rathen haben zusammen doch über zwei Stunden gekostet, und ich will ja heute noch einen Zug nach Nürnberg bekommen. So sehe ich nur im linkselbischen Vorbeifahren auf der Karte, dass das Schloss, das ich bisher für Pillnitz gehalten hatte, auf einer rechtselbischen Anhöhe, gar nicht Pillnitz ist. Pillnitz liegt ein paar Kilometer weiter flussaufwärts und keineswegs auf einer Anhöhe, sondern direkt am Fluss. Was ich für Pillnitz gehalten hatte, ist offenbar eine Villa oder ein Weingut in Loschwitz oder Weißer Hirsch.

In Dresden bin ich gegen vier am Bahnhof, der nächste Zug geht kurz vor fünf und wird gegen halb zehn in Nürnberg sein. Ich besorge mir Getränke und Eierschecke als Wegzehrung und lese bis zur Abfahrt (und danach auch im Zug) in den Sterntagebüchern von Stanisław Lem. Die hatte ich seit über zwanzig Jahren im Regal stehen und nie gelesen, aber als kürzlich die witzige no-budget-Fernseh­verfilmung mit Nora Tschirner als „analoger Halluzinette“ wieder ausgestrahlt wurde, habe ich Lust bekommen, sie endlich zu lesen.